«Die Fragen unserer Zeit erfordern neue architektonische Antworten»
Wie kann Bauen klimagerecht, flexibel und gleichzeitig schöpferisch sein? Architektur, die nicht nur gestaltet, sondern Verantwortung übernimmt? Im Porträt sprechen die Architektin Astrid Staufer aus vom Büro Staufer & Hasler in Frauenfeld und der Architekt Jürg Graser vom Büro Graser. Troxler. in Zürich über ihre Inspirationsquellen, neue Formen der Zusammenarbeit sowie den Mut zur Haltung und zum Bestand.

Was hat Sie und Ihre Büros dazu inspiriert, gemeinsam an diesem Architekturwettbewerb mitzumachen?
Astrid Staufer: Ich wusste sofort, dass ich dieses Projekt mit Jürg machen möchte, weil sich eine praktische Umsetzung dessen anbot, was wir für den Architektur Klima Atlas zu umweltbewusstem Entwerfen recherchiert, erforscht und publiziert hatten. Wir haben uns nicht viele Gewinnchancen ausgemalt – mit einem derart radikalen Ansatz des Stehenlassens – aber wir wollten zeigen, dass eine umfassende Transformation möglich ist, ohne das Gebäude abzubrechen.
Eine ebenbürtige Arbeitsgemeinschaft holt Architektur aus dem Tunnelblick, andere Perspektiven und Erfahrungen stellen schnelle Lösungen gegenseitig immer wieder infrage. So entstehen nicht nur Kompromisse, sondern ein neuer, dritter Weg.
Jürg Graser: Für Astrid und mich war es von Anfang an klar, dass aus unserer Zusammenarbeit ein ausserordentliches Projekt entstehen kann. Obwohl dies in unserer Branche bisher eher unüblich ist.

Astrid Staufer hat an der ETH Zürich ihr Architekturstudium absolviert. Jürg Graser aus Bern hat in Lausanne, Basel und Zürich studiert. Beide hatten ihr jeweiliges Architekturbüro ursprünglich in einem Keller gegründet, beide sind auch in der Lehre sowie in der Forschung tätig und beide arbeiten gemeinsam am Aeschenplatz 6.
Wie kamen Sie zu Ihrem Beruf und welche Philosophie und Prinzipien leiten Sie bei Entwürfen und Realisierungen von Projekten?
Jürg Graser: Das ist eine Frage, die man sich fortlaufend stellen muss. Warum machen wir das? Wofür stehen wird? Welche Stilgeschichten wollen wir erzählen? Für mich und meine Arbeit ist die aktive Auseinandersetzung mit der Gegenwart wichtig: beispielsweise ein unkritischer Technik- und Fortschrittsglaube, der ganze Diskurs zu Suffizienz oder zum Verzicht auf individualistischer Ebene, anstatt vernetzt zu denken. Seit den Nachkriegsjahren nehmen wir eine unfassbare Menge an Ressourcen in Anspruch, oft ohne uns zu fragen, wo das hinführt und was die Konsequenzen sind.
Das weist darauf hin, was 2025 eine gültige, verantwortungsvolle und tragfähige Lösung der Architektur ist – sowohl hinsichtlich der Konstruktion sowie der Nachhaltigkeit. Es braucht Neugierde und auch Widerstandsbereitschaft gegenüber Gewohnheiten der Bauindustrie. Wir müssen nicht nur in Bezug auf uns selbst, einander und unsere Büros, sondern auch auf unserem Planeten in ein Gleichgewicht kommen. Deswegen haben wir beim Aeschenplatz 6 auch mit einem Nachhaltigkeitsexperten zusammengearbeitet. Die gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit erfordern vielleicht mehr denn je auch neue architektonische Antworten, Kooperationsformen und klimagerechte Bauweisen.
Astrid Staufer: Ja, im Klimawandel muss man ganz anders operieren. Das hat das Potenzial, für einen Paradigmenwechsel, einen Gesinnungswandel. Vielleicht können diese Ansätze sogar eine neue Architekturepoche einläuten. Es ist jedoch ein gefährliches Denken der Moderne, dass man alles vergessen könne, was vorher gemacht wurde. All die menschlichen Bedürfnisse bleiben ähnlich, die jahrtausendealten Prinzipien und entwickelte Kultur haben Bestand und sind ein wichtiger Fundus für unser Tun. Alles wurde irgendwann in der Geschichte schon mal gedacht. Aber jede Generation muss diese Themen mit ihren neuen Mitteln auf die zeitgemässen Bedingungen übersetzen. Das Verschränken von Innovation und Fortschritt mit dem Verständnis des Bewährten ist für mich zentral.
«Der Klimawandel bringt das Potenzial, eine neue Architekturepoche einzuläuten.»
Jürg Graser: Ich verstand unsere Disziplin immer als Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft. Kunst, die explizit unnützlich, dekorativ oder provozierend sein darf. Und Wissenschaft, die zumindest idealerweise auf einem konkreten Fundament von Rationalität und Objektivität steht. Für mich ist Architektur eine intellektuelle, künstlerische und forschende Tätigkeit, die durch ihr Fachwissen die Verantwortung für Ästhetik in der Gesellschaft übernimmt.
Frau Staufer, Sie haben vorhin den Sprung zwischen Lehre, Forschung und Praxis erwähnt. Welchen Einfluss hat Ihre Lehrtätigkeit als Professorin auf Ihre Arbeit als Architektin?
Astrid Staufer: In den letzten 30 Jahren hat sich unser Beruf enorm verändert. Ich habe den Eindruck, zu Beginn meiner Tätigkeit konnte man manchmal sogar verrückte Ideen einbringen. In den letzten Jahrzenten hat sich das ganze Bauwesen zunehmend normiert und perfektioniert. Heute operieren wir in einer Situation, in der sich diese Vorgaben immer mehr widersprechen – und wir uns für zukunftsfähige Bauprojekte wieder mehr Freiraum schaffen müssen.
In der Forschung und im Austausch mit jungen Studierenden können wir diese Probleme vertiefen, neue Lösungen ausloten und experimentieren, ohne dass immer alle Parameter und Vorgaben mitgedacht werden müssen. Diese inspirieren dann auch die architektonische Praxis von heute und leisten so einen Beitrag zu einer sich wieder öffnenden Baukultur. Das beste Beispiel dafür ist der Aeschenplatz 6. Deswegen ist es für uns ein Herzensprojekt.
Sie beide sind in einem breiten Spektrum tätig, von Wohnbauprojekten bis zu Stadtraumplanungen, vom Kuhstall über SAC-Hütten bis zu den urbanen Geländen. Was macht den Aeschenplatz 6 für Sie so speziell?
Astrid Staufer: Unser Entwurf ist tatsächlich eine exakte praktische Anwendung der Erkenntnisse unserer Forschungsarbeit. Denn klimagerechtes Bauen ist nicht nur ein Trend, sondern schlicht eine Notwendigkeit. Und vor allem auch eine Chance für neue Wege aus der aktuellen Erstarrung der Branche. Das Arbeiten mit dem bereits Vorhandenen ist das kreislauffähigste und ressourcenschonendste Vorgehen – so liegt gerade im Pragmatischen das Visionäre. Denn der Bestand ist auch ein Generator von Innovation, weil man durch das Vorgegebene auf Ideen kommt, die auf dem weissen Papier nicht entstanden wären. Beim Aeschenplatz 6 sind es zum Beispiel das Palmenhaus im bestehenden, kuriosen Glaskörper über dem Eingang oder die halbrunden Balkone an der vorhandenen, aussenliegenden Tragstruktur.
«Der Bestand ist ein Generator von Innovation.»
Ich freue mich sehr über diese neue Epoche von Umbauten. Alte, ungeliebte Häuser in etwas Schönes, Lebendiges wandeln zu können. Das lag mir als Architektin immer mehr, als auf die grüne Wiese irgendwelche ikonischen Monumente zu setzen. Ich frage mich oft, warum musste sich der Architekt da derart manifestieren? Wir brauchen wandlungsfähige, flexible Lösungen für die Zukunft, die sich als eine Variation ins grosse Ganze einfinden.
Jürg Graser: Ich finde diese herkömmlichen und völlig veralteten Genie-Vorstellungen von Architektur persönlich auch anmassend. Nicht mein subjektiver Blick, sondern diskursives Denken innerhalb des städtebaulichen Ensembles ist das, was zählt – besonders nun wieder dank der Nachhaltigkeitsdebatte.
Astrid Staufer: Es ist spannender, keinen einheitlichen stilistischen Merkmalen und Markenzeichen nachzueifern. Jedes Gebäude strebt nach seinem eigenen, identitätsstiftenden und mehrdeutigen Ausdruck – um zum jeweiligen Zeitpunkt Teil eines bestimmten Ortes zu werden. Der rote Faden, der meine Entwürfe zusammenhält, soll nicht ein generalisierbarer Ansatz sein. Meine sehr verschiedenen Projekte haben eher eine methodische Gemeinsamkeit: Das Hin und Her zwischen Skizzieren, Modellieren und Geschichten erzählen.
«Gebäude streben nach ihrem eigenen, identitätsstiftenden und mehrdeutigen Ausdruck – um zum jeweiligen Zeitpunkt Teil des jeweiligen Ortes zu werden.»
Die Erzählung eines Orts entsteht aus den Bedeutungen, die ihm die Menschen dort geben. Als bekannt wurde, dass wir mit einem Entwurf den Wettbewerb gewonnen haben, der den ganzen Bestand erhält, erreichte uns eine lustige und rührende Bemerkung eines Basler Bürgers: «Vielen Dank, dass sie den Hammering Man stehen lassen.» Das Kunstwerk hat sich offensichtlich in die Herzen der Basler Bevölkerung gearbeitet. Es wäre schön, wenn das mit dem Aeschenplatz 6 ebenfalls gelingt und die Menschen sehen, dass wir aus dem Betonbau ein lebendiges, vielseitiges Gebäude der Möglichkeiten machen können.